1960 – die letzte WM-Saison von Carlo Ubbiali
Im Lauf seiner Karriere hatte Carlo den Übernamen Chinese erhalten, wohl aufgrund seiner mandelförmigen Augen. Mit 7 WM-Titeln war Ubbiali bereits der erfolgreichste Fahrer seit Austragung der Weltmeisterschaft. Die Saison 1960 sollte seine letzte werden und natürlich wollte er sich gebührlich vom Rennsport verabschieden. Die Rivalität zwischen ihm und Tarquinio Provini hatte dazu geführt, dass dieser sich zu Konkurrent Morini abgeseilt hatte. Und die Gegner waren nicht weniger geworden. Mit Gary Hocking aus Rodesien (heutiges Simbabwe im Süden Afrikas), Tom Phillis und Mike Hailwood waren im Vorjahr neue starke Fahrer hinzugestoßen. Dazu gehörten altbekannte Gesichter wie Luigi Taveri und Ernst Degner mit der immer konkurrenzfähiger gewordenen MZ zu den ernsthaften Herausforderern.
Die Werksteams der Motorrad-Weltmeisterschaft 1960
Nach Provinis Weggang gehörten Taveri und Hocking neu zum Team, während sich in den größeren beiden Klassen nichts geändert hatte. Luigi Taveri war bereits von 1955 bis 1957 schon einmal Carlos Mannschaftskollege gewesen. Gary Hocking hatte im Vorjahr mit zwei Siegen für MZ in Schweden und beim Ulster GP aufhorchen lassen. Nach dem Ausstieg von Ducati war mit Bianchi ein weiterer italienischer Hersteller werksseitig in die Motorrad-WM eingestiegen. Dazu Honda mit einer wahren Armada an Werksfahrern in den beiden kleineren Klassen. Ubbiali war sich klar, dass die Herausforderung zur Verteidigung beider Weltmeister-Titel kein Honiglecken sein dürfte. Doch in seiner letzten Saison wollte er es nochmals allen zeigen.
Carlos starker Saisonauftakt 1960
Nachdem wie im Vorjahr der GP von Frankreich nur den größeren Klassen vorbehalten war, ging für den Italiener die Saison wieder auf der Isle of Man los. Im April hatte Ubbiali davor bei den Heimrennen von Cesenatico und Imola Siege in der 250 cm³ Klasse eingefahren. Die Tourist Trophy wurde in diesem Jahr auf dem ultralangen (gut 60 km) Mountain Course ausgetragen. Im 125 cm³ Rennen war Carlo unbezwingbar, fuhr die schnellste Runde und gewann vor seinen Teamollegen Hocking und Taveri. Sechster wurde ein Japaner namens Taniguchi. Niemand konnte damals ahnen, wie schnell sie sich steigern würden und mit was für einem immensen Aufwand die Firma aus Fernost innert kürzester Zeit dem Grand Prix Sport ihren Stempel aufdrücken sollte. Beim 250-er Rennen revanchierte sich Ubbialis Mannschafts-Kollege Hocking mit einem Sieg beim Italiener, dem diesmal nur Platz 2 blieb. Aber immerhin noch vor seinem langjährigen Erzrivalen Tarquinio Provini auf der Morini. Dahinter erreichten gleich 3 Honda Piloten das Ziel, angeführt vom Australier Bob Brown.
GP der Niederlande und von Belgien
An der Dutch TT schlug Carlo in der 250 cm³ Klasse zurück und gewann vor Hocking, Taveri und John Hempleman (MZ). Mit dem Sieg bei den 125-ern realisierte der Mann aus Bergamo den bereits achten Doppelsieg in seiner mittlerweile zwölften GP-Saison. Platz zwei ging erneut an Teamkollege Hocking und dritter wurde Alberto Gandossi auf MZ. Bei den 250-ern legte Carlo in Spa-Francorchamps nach und gewann erneut vor Hocking und Taveri. Beim 125 cm³ GP von Belgien ging der Sieg an Ernst Degner auf der starken Zweitakt-MZ, vor seinem Teamkollegen John Hempleman. Ubbiali schaffte mit Platz 3 sein sechstes Podium im sechsten Grand Prix der Saison. Zu dieser Zeit mit der fehleranfälligen Technik eine unglaubliche Konstanz. Sein langjähriger Erzrivale und Teamkollege Provini landete übrigens beim GP von Belgien im Spital, er war bei der Linkskurve Blanchimont gestürzt.
GP von Deutschland – unter einem schlechten Stern
Das Wochenende auf der Solitude bei Stuttgart wurde vom tödlichen Trainings-Unfall des Australiers Brown und fragwürdigen Funktionärs-Entscheiden überschattet. Den Sieg im 250-er Rennen holte sich wie bei der TT wieder Hocking vor Ubbiali. Doch was der Italiener in diesem Rennen geschafft hatte, war ein wahrer Parforce-Ritt. Er war zu Beginn des 250 cm³ GP gestürzt, konnte sich jedoch wieder aufraffen, um am Ende auf Platz 2 die Ziellinie zu kreuzen. Mit seinem dritten Platz holte der Japaner Kenjiro Tanaka beim GP von Deutschland das erste Podium für Honda und einen Fahrer aus Fernost. Wäre dies nicht unter derart tragischen Umständen passiert, die Feier der Japaner wäre bestimmt wesentlich ausgelassener geworden, als dies danach der Fall war.
Die skandalösen Zustände im Deutschen Rennsport der Nachkriegszeit
Die kleinste Klasse hatte in Deutschland Pause, da sie gar nicht ausgeschrieben war. Die Hintergründe dafür waren leider mehr als blamabel und stellten die Verantwortlichen in kein gutes Licht. Aus Befürchtung, es könnte in Westdeutschland ein Fahrer auf einem Fabrikat aus der DDR gewinnen, hatte man auf die Durchführung eines 125 cm³ WM-Laufs schlicht verzichtet. Als Resultat davon fanden 1960 in dieser Kategorie dadurch mit 5 ausnahmsweise sogar weniger WM-Runden als bei den 250-ern statt. In den Jahren davor waren es meist deren sieben gewesen. Die Ereignisse erinnerten an das Jahr 1957, als man die DDR Fahrer an der westdeutschen Motorrad-Meisterschaft teilnehmen ließ, sie am Schluss seitens des OMK (oberste Motorsportbehörde von Westdeutschland) jedoch mit fragwürdiger Begründung am Ende disqualifizierte. Mehr dazu siehe die Geschichte über Ernst Degner in unserer History.
Starkes Saisonfinalle Ubbialis
Bei den 250-ern gab sich Carlo keine Blöße und siegte im Ulster GP und beim Heimrennen zum GP der Nationen in beiden Rennen. Auf der Dundrod Strecke bei Belfast hatte Hocking Pech gehabt und musste mit Kupplungsproblemen aufgeben. Nur im 125 cm³ Rennen lief es dem Rhodesier in Nord-Irland halbwegs nach Wunsch, doch auch hier gewann Ubbiali. Platz 3 und das zweite Podium der Saison ging nach seinem Sieg in Spa an Ernst Degner mit seiner MZ. Beim Abschlussrennen in seiner Heimat erwies sich der Mann aus Bergamo erneut unschlagbar und krönte seinen 6. WM-Titel der 125-er mit dem 4. Saisonsieg. MV-Teamkollege Bruno Spaggiari blieb nur Platz zwei vor Degner. Beim 250 cm³ Rennen zum GP der Nationen zeigte sich unter Hockings Landsmann Jim Redman, wie stark die Honda mittlerweile geworden war. Während Gary Hocking erneut mit mechanischen Problemen aufgeben musste, gewann Ubbiali vor Redman auf seiner Honda. Ernst Degner rundete seine hervorragende Saison mit einem 3. Platz ab. Auch die 250-er WM war damit zugunsten von Ubbiali entschieden.
Unglaublich starke Bilanz
Mit insgesamt 39 Grand Prix Siegen, davon 26 in der 125 cm³ Klasse, deren 13 bei den 250-ern und dazu 9 Weltmeister-Titeln ist Carlo Ubbiali bis heute einer der erfolgreichsten Fahrer aller Zeiten. Bei den kleineren Klassen übertraf nur der Spanier Angel Nieto mit 13 Titeln seine eindrückliche Serie. Heute ist aus Reglements-Gründen die Nachfolgekategorie Moto3 als Nachwuchsklasse definiert und mit einer Altersgrenze belegt. Wenn man bedenkt, wie gefährlich der Rennsport zu Carlos Zeiten war, grenzen seine Leistungen an ein Wunder. Während seiner Karriere hatten mehr als 150 Rennfahrer dem Zweiradsport ihr Leben geopfert. Einige von ihnen hatten Ubbialis Weg gekreuzt. In der Saison 1951 hatte er durch tödliche Unfälle gleich zwei Teamkollegen verloren. Doch er hatte nicht nur überlebt, sondern den schmalen Grat zwischen Tod und Triumph Jahr für Jahr erfolgreich überwunden und ging als einer der erfolgreichsten GP-Piloten der Welt in die Geschichte ein.
125 cm³ Fahrer-Weltmeisterschaft 1960
Nachdem damals nur die ersten 6 Fahrer eines Rennens WM-Punkte gewinnen konnten, hier zur Vollständigkeit auch die Piloten, welche bei einem GP auf Rang 7 bis 10 ins Ziel gekommen waren (mit den damals üblichen Ländercodes): Rex Avery (GB, EMC), † Bob Brown (AUS, Ducati), Gerard Carter (IRL, Honda), Franco Farné (I, Ducati), S. Fukuda (J, Honda), Moto Kitano (J, Honda), Hans Lenheer (NL, Ducati), Werner Musiol (DDR, MZ), Noel Orr (N.Irl., Honda), Alberto Pagani (I, MV Agusta), Tom Phillis (J, Honda), Yukio Satoh (J, Honda), Sadao Shimazaki (J, Honda), Jaap Stoltenkamp (NL, NSU), Teisuke Tanaka (J, Honda).
125 cm³ Hersteller-Weltmeisterschaft 1960
250 cm³ Fahrer-Weltmeisterschaft 1960
Hier die Piloten, welche bei einem GP auf Rang 7 bis 10 ins Ziel gekommen waren: Heiner Butz (D, NSU), Phil Carter (GB, NSU), John Dixon (GB, Adler), Alan Dugdale (GB, NSU), Jan Huberts (NL, Honda), Horst Kassner (D, NSU), Siegfried Lohmann (D, Adler), Jack Murgatroyd (GB, NSU), Raphaël Orinel (F, NSU), Mike O’Rourke (GB, Ariel), Noel Orr (N.Irl., NSU), Osvaldo Perfetti (I, Bianchi), Frantisek St’astný (CS, CZ), Rudi Thalhammer (A, NSU), Pierrot Vervroegen (B, MotoBi).
250 cm³ Hersteller-Weltmeisterschaft 1960
Das lange Leben von Carlo Ubbiali nach dem Rücktritt
Bevor seine Landsleute Giacomo Agostini und später Valentino Rossi auftauchten, war Ubbiali unbestritten der beste und erfolgreichste GP-Pilot aus dem Land mit der Form eines Stiefels. Er hatte sich in den 12 Jahren seiner Karriere kaum Fehler geleistet. Bis auf den Sturz im Training zum GP von Assen 1957 hatte sich Carlo nie ernsthaft verletzt und wurde dadurch zu einer längeren Pause gezwungen. Gemeinsam mit Mike „the Bike“ Hailwood und dem Idol der Massen Valentino Rossi liegt er mit je 9 WM-Titeln noch heute in der ewigen Bestenliste hinter Agostini und Angel Nieto auf Platz 3. Sein Rat war bei vielen italienischen Fahrern noch lange Zeit gefragt. Carlo Ubbiali verstarb im hohen Alter von 90 Jahren in seiner Heimatstadt Bergamo an den Folgen eines häuslichen Unfalls am 2. Juni 2020 als letzter überlebender Fahrer der ersten WM-Saison 1949.
Die wichtigsten Erfolge Ubbialis
Insgesamt hatte Carlo sechs 125 cm³ Weltmeistertitel und deren 3 in der 250 cm³ Klasse auf seinem Konto stehen. Dazu kamen sechs Titel in der italienischen 125-er Meisterschaft, sowie zwei in der 250 cm³ Kategorie. Mit insgesamt 39 Siegen steuerte Ubbiali in seiner Karriere mehr als ein Drittel der 104 Grand Prix Siege von Italienern in den ersten 12 WM-Jahren bei. Dass er angeblich 71 GP-Starts gehabt haben soll, wie in Wikipedia behauptet wird, stimmt leider wie so vieles in dieser vermeintlichen Wissens-Datenbank nicht. Wir haben minutiös jeden einzelnen Grand Prix seiner Karriere nachgeforscht und exakt gezählt, es waren tatsächlich 88 Starts an WM-Läufen. Mit seinen 39 Siegen hatte der Italiener dabei eine Erfolgsquote von beinahe 50 Prozent.
Die Relation zu heute
Wenn man bedenkt, dass in Ubbialis Zeit nur zwischen 3 und 7 Runden in der Weltmeisterschaft pro Klasse gefahren wurden, sind 39 GP-Siege eine heute erst recht beeindruckende Zahl. Zum Vergleich fuhr ein Sandro Cortese als WorldSBK Rookie 2019 ganze 37 WM-Läufe von geplanten 39 Rennen. Seitdem das umstrittene Superpole-Race Bestandteil des Kalenders ist, fährt der „Italo-Schwabe“ damit in einer normalen Saison so viele Rennen, wie Carlo GP-Siege aufzuweisen hatte. In der MotoGP wären ohne Corona-Pandemie 2020 das erste Mal 20 Rennen in einer Saison durchgeführt worden. Mit dieser Zahl fährt ein Fahrer in zwei Saisons so viele Rennen wie Carlo gewann, der in fünf seiner 12 WM-Jahre sogar in zwei Klassen gleichzeitig an den Start gegangen war.