Ernst Degner mit dem Siegerkranz – ein häufiges Bild in den späten 50-er und frühen 1960-er Jahren.

Die erste Saison als DDR-Flüchtling & der WM-Triumph

Nach seiner Republik-Flucht aus der DDR (siehe Teil 5) lebte Ernst Degner mit seiner Familie im Süden Deutschlands. Natürlich war man in der DDR enttäuscht, insbesondere auch beim Team, welches er mit seiner Flucht damit im Stich gelassen hatte. Es wurden Gerüchte laut, Ernst hätte den 125 cm³ WM-Titel im Vorjahr absichtlich durch einen selbst herbeigeführten Defekt torpediert. In der DDR hatte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Wirtschaftsspionage gegen ihn eröffnet, wie in der staatstreuen Gazette „Neues Deutschland“ zu lesen war. Degner wurde dabei des Verrats bezichtigt und gehörig durch den Schlamm gezogen. Dies alles konnte ihm in der neuen Situation jedoch egal sein, bis auf die nun nicht mehr mögliche Anreise zum GP der DDR war Ernst mit seiner Familie endlich frei und konnte ab nun auch die Preisgelder selbst einstreichen. Und mit der Verpflichtung bei Suzuki war 1962 ein neues Kapitel im Rennsport für ihn eröffnet. Aufgrund seines Know-hows waren die Japaner quasi über Nacht vom Hinterbänkler-Team zu einem ernstzunehmenden Titel-Anwärter in den kleineren Klassen geworden.

Die 50 cm³ Suzuki für 1962 – Vorstellung in einer französischen Motorsport-Zeitschrift.

Die Werksteams der Saison 1962

Mangels Einreisevisa für die Nato-Staaten hatte MZ nur noch die Möglichkeit, am Heim-GP und in Schweden oder Finnland teilzunehmen. Durch den Mauerbau von Berlin war der kalte Krieg in eine verschärfte Phase getreten. So gesehen war Ernst Degner im Herbst 1961 genau rechtzeitig in den Westen geflüchtet. Andernfalls wäre seine GP-Karriere nun beendet gewesen. Mit seiner Hilfe (siehe Kapitel 5) hatte Suzuki nun für die neu geschaffene 50 cm³ Klasse und in der 125-er WM eine schlagkräftige Waffe in der Hand. Eigentlich hatte sich Kreidler mit Hans Georg Anscheidt (siehe separate Story über H.G. Anscheidt in unserer History) nach dem Gewinn des Europameister-Titels Hoffnungen auf den 50 cm³ Titel gemacht. Doch sie sollten enttäuscht werden. Mit der jugoslawischen Marke Tomos, einem Hersteller für Mopeds und Bootsmotoren, kam noch ein weiterer Hersteller aus dem „Ostblock“ neu dazu. Nach Bultaco folgte Derbi aus Spanien nach, beide wie Kreidler nur in der neu lancierten „Schnapsglasklasse“ bis 50 cm³. Tomos und Derbi sollten in der 50 cm³ Weltmeisterschaft jedoch keine tragende Rolle spielen. Bei Suzuki sollte im Lauf der Saison Hugh Anderson zum Team stoßen. Der Neuseeländer wurde im Jahr darauf zur ernsthaften Herausforderung für seine Gegner.

Saisonauftakt in Spanien und WM-Runde 2 Frankreich
Im Vorjahr hatte Ernst Degner im Montjuic Park von Barcelona mit Platz 2 bei den 125-ern auf der MZ einen hervorragenden Start in die Saison. Doch der hundertste Motorrad GP der Geschichte brachte ihm kein Glück. Knapp 13 Jahre nach der Premiere vom 12. bis 17. Juni 1949 mit der Tourist Trophy feierte der GP Zirkus 1962 in Barcelona Runde Nummer 100. Dabei ging Degner beim GP von Spanien jedoch leer aus. Bei den 50-ern gewann Hans Georg Anscheidt (Kreidler) vor dem Spanier Busquets auf Derbi und Luigi Taveri (Schweiz, Honda). Die 125 cm³ Klasse wurde eine Beute von Kunimitsu Takahashi vor Jim Redman und Taveri (alle Honda). Erst beim GP von Frankreich auf der sogenannten Charade bei Clermont-Ferrand in Frankreich schaffte Degner beim 125-er Rennen mit Platz 5 die ersten WM-Punkte. Sieger wurde erneut Takahashi, diesmal vor Redman und Tommy Robb (alle Honda). Der Sieg in der 50 cm³ Kategorie ging an den Niederländer Jan Huberts (Kreidler), vor den beiden Hondas von Takahashi und Taveri. Ernst ging auch in der 2. Runde der Schnapsglasklasse erneut leer aus und Anscheidt verbuchte diesmal ebenfalls einen Nuller.

Die 50 cm³ Sieger der ersten beiden Rennen – Jan Huberts vor Hans Georg Anschneidt (beide Kreidler). Hinten im Bild der Japaner Seichi Suzuki auf Suzuki.

Der erste 50 cm³ Sieg für Suzuki
Es war der geschichtsträchtige erste GP-Sieg für Suzuki, den Ernst Degner in der 50 cm³ Klasse an der Tourist Trophy errang. Luigi Taveri wurde vor seinem Honda Teamkollegen Tommy Robb Zweiter und Anscheidt holte auf der besten Kreidler Platz 4. Die 125 cm³ Kategorie war dagegen eine klare Angelegenheit für Honda. Mit Ausnahme des Engländers Rex Avery (EMC) auf Rang 6 klassierten sich nur Honda Piloten in den Punkterängen. Der Sieg ging an Taveri vor Robb, Phillis und Derek Minter. Das Leben des Australiers Tom Phillis fand bei einem Sturz in der 350 cm³ Junior-TT kurz danach ein Ende, als er bei Laurel Banks als 68. Opfer der TT tödlich verunfallte.

† Thomas Edward „Tom“ Phillis starb als 68. TT Opfer im Alter von erst 29 Jahren als 6-facher GP-Sieger und 125 cm³ Weltmeister von 1961.

Die Bestätigung an der Dutch TT von Assen
Die Bestätigung für Degner folgte beim GP der Niederlande. Er gewann vor Lokalmatador Jan Huberts, Hans Georg Anschneidt (beide Kreidler) und seinen beiden Teamkollegen Suzuki und Itoh. Als Draufgabe gelang Degner hinter den drei Hondas von Taveri, Redman und Robb auch noch Platz 4 auf der 125 cm³ Suzuki. Es sollten die letzten WM-Punkte in dieser Klasse für Ernst bleiben, doch bei den 50-ern war er seit der 4. von 10 Runden nun WM-Leader. Aufgrund des damaligen Reglements zählten nur die besten 6 Rennen und Konstanz über die ganze Saison wurde nicht belohnt. Aus diesem Grund waren Siege in den ersten 20 Jahren der Motorrad-WM umso wichtiger. Erst 1969 kam eine Reglementsänderung, bei welcher wenigstens die ersten 10 Fahrer im Ziel WM-Punkte erhielten.

Hans Georg Anschneidt (Kreidler) – der westdeutsche Pilot war Ernst Degners hartnäckigster Gegner im Kampf um die erste 50 cm³ Weltmeisterschaft 1962.

Triumph bei den Grand Prix von Belgien und Deutschland
In Spa-Francorchamps schaffte Degner den Hattrick mit 3 Siegen in Folge in der 50 cm³ Klasse. Für H. G. Anscheidt und Luigi Taveri blieben nur die beiden restlichen Plätze auf dem Podium. Wie bereits am Assen GP schaffte Ernsts Teamkollege Suzuki auf dem gleichnamigen Bike zum zweiten Mal Rang 4. Beim Heimrennen des 1962 neu für Westdeutschland antretenden Exil-Ostdeutschen folgte Sieg Nummer 4 in Folge. Rang zwei ging an Anscheidt, während mit Mitsuo Itoh zum ersten Mal ein zweiter Suzuki Pilot nach Platz 3 mit auf dem Podium stand. Für die „Schnapsglasklasse“ folgte beim Ulster GP eine Zwangspause, da diese in Nord-Irland nicht ausgeschrieben war. Beim 125 cm³ Rennen sorgte Luigi Taveri dort für die vorzeitige Sicherung seines WM-Titels, als er zum 5. Mal in Folge gewann. Degner stürzte auf der Strecke von Dundrod und brach sich dabei die Kniescheibe.

Der zweite Jan Huberts (in Bildmitte) und Sieger Ernst Degner (rechts im Bild) bei der Siegerehrung nach der 50 cm³ Dutch TT 1962.

Die Zwangspause
Zum Sachsenring GP hätte Degner sowieso nicht einreisen können. Als DDR-Flüchtling wäre er sofort verhaftet worden. Daher hatte er in der 7. von 10 WM-Runden eine Zwangspause, bevor es nach Monza zum GP der Nationen gehen sollte. Hans Georg Anscheidt blieb auf dem Sachsenring ebenfalls punktelos, während der Niederländer Jan Huberts den GP der DDR vor Itoh und Hugh Anderson gewonnen hatte. In Monza musste Ernst aufgrund seiner Verletzung immer noch pausieren. Daher musste er tatenlos in kauf nehmen, dass Hans Georg vor Itoh und Huberts gewann. Anscheidt führte nun nach Punkten mit 35 zu 32. Aber ab nun musste er aufgrund der damaligen Regelung mit Streichresultaten, um weitere Zähler totalisieren zu können, immer das Podium erreichen. Degner hingegen hatte durch seine vier Siege erst 4 Mal WM-Punkte geholt und konnte daher noch frei punkten. In der Weltmeisterschaft zählten bis 1968 nur die besten 6 Resultate, sofern 10 oder 11 Runden ausgetragen wurden.

Emsige Honda Mechaniker bei der Arbeit. Der Aufwand, mit welchem der damals bereits weltgrößte Hersteller den Rennsport betrieb, sprengte sämtliche Grenzen des bis dahin denkbaren.

Grand Prix von Finnland und das Finale in Argentinien
Beim GP von Finnland in Tampere siegte Luigi Taveri das erste Mal für Honda bei den 50-ern. Platz 2 ging an seinen Teamkollegen Tommy Robb. Für Anscheidt und Degner blieben nur die Ränge 3 und 4. Abzüglich der Streichresultate führte nun der Kreidler Pilot mit 36 Punkten vor Ernst mit deren 35. Spannender konnte es vor dem Finale in Argentinien kaum sein. Das Finale in Buenos Aires wurde vom Neuseeländer Hugh Anderson auf Suzuki gewonnen. Degner wurde vor H. G. Anscheidt Zweiter, womit der erste 50 cm³ WM-Titel der Geschichte an Suzuki und den DDR-Flüchtling ging. Der Japaner Itoh (Suzuki) wurde auf Platz 4 abgewunken, vor Jan Huberts und dem Westdeutschen Günter Beer (beide Kreidler). Suzuki holte sich auch die Marken-Weltmeisterschaft und Anderson sorgte in Buenos Aires für den ersten 125-er Sieg der japanischen Marke. Honda war der WM-Titel in den Klassen 350 cm³ und 250 cm³ (beide Jim Redman) sowie 125 cm³ (Luigi Taveri) nicht mehr zu nehmen. Deshalb verzichteten die Japaner auf die weite Anreise nach Argentinien.

Den einzigen WM-Titel von 1962, der in dieser Saison nicht an die Japaner ging, holte Mike Hailwood für MV Agusta in der 500 cm³ Königsklasse. Sämtliche anderen Solo-Titel gingen an die Japaner, wobei Suzuki hierzu auf Technik und Know-how aus der DDR zurückgreifen konnte.

Die japanische Dominanz in der Saison 1962

Nachdem im Jahr 1960 noch sämtliche WM-Titel in den Soloklassen an MV Agusta gegangen waren, hatte sich ab 1961 die Situation drastisch verändert. Den Italienern blieb in der Saison 1962 nur noch der Weltmeistertitel von Mike Hailwood in der 500 cm³ Klasse. Im Jahr davor waren es noch die beiden Titel bis 350 cm³ und 500 cm³ gewesen, während Honda bereits die beiden kleineren Klassen dominiert hatte. Nun hatten die Japaner auch den 350-er Fahrer- und Hersteller-Titel mit Jim Redman geholt und Tommy Robb wurde WM-Zweiter. Bei den 250-ern wurde es genauso ein Honda Doppel-Triumph wie in der 125 cm³ Klasse. In der 50 cm³ Schnapsglasklasse war es Suzuki mit Ernst Degner, die am Jahresende den Fahrer- und Hersteller-Titel für sich beanspruchten. In jeder Klasse, in welcher die japanischen Werke angetreten waren, hatten sie alles abgeräumt. Und Degners Rechnung war aufgegangen, er bekam nach seiner „Republik-Flucht“ aus der DDR die Chance zur Fortsetzung seiner Karriere. Der vielleicht einzige Makel war dabei, unter welchen Umständen Suzuki plötzlich so konkurrenzfähig geworden war, siehe dazu auch Teil 5 dieser Story.

Das Heck der 4-Zylinder 250 cm³ Honda von 1962 – die Gegner sahen dieses Bike nach dem Start meist nur noch von hinten oder aus der Ferne.

Die Opfer des Motorradrennsports im Jahr 1962

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier die uns bekannten Opfer des Motorrad-Rennsports im Jahr 1962. Gegenüber den mindestens 12 Toten (laut unserer Statistik) im Vorjahr war es nochmals eine dramatische Steigerung. Zusammen mit dem beim Training zu einem Autorennen verunfallten Gary Hocking verloren mindestens 15 Fahrer 1962 ihr Leben. Einige davon ehemalige Weltmeister und von absolutem Weltruf. Doch unabhängig der Reputation ist jeder Tote im Rennsport einer zu viel. Auf dem gefährlichen Straßenkurs der Isle of Man verloren 1962 alleine 6 (in Worten SECHS) Fahrer ihr Leben!

Bob McIntyre (rechts im Bild als Zweiter der Senior TT 1961 mit Sieger Hailwood in der Mitte) und links Tom Phillis ließen auf der Rennstrecke im Sommer 1962 ihr Leben.
Gary Hocking 21. Dezember 1962. Auch der Doppelweltmeister bis 350 cm³ und 500 cm³ von 1961 überlebte seinen Unfall mit seinem Lotus im Training zum GP von Natal nicht.

50 cm³ Fahrer-Weltmeisterschaft 1962

Es wurden von den 10 Rennen im Jahr 1962 nur die besten 6 Resultate gewertet, bei den 50-ern gab es in dieser Saison dadurch 3 Streichresultate. Nach heutigem Modus wäre Hans Georg Anscheidt Weltmeister geworden. Nachfolgend zur Vollständigkeit auch die Fahrer, welche bei einem GP auf Rang 7 bis 10 ins Ziel gekommen waren (mit den damals üblichen Ländercodes):
Adrijan Bernetic (YU, Tomos), Walter Brehme (DDR, MZ), Erhard Krumpholz (DDR, MZ), Rudi Kunz (D, Kreidler), Derek Minter (GB, Honda), Gilberto Parlotti (I, Tomos), Tom Phillis (AUS, Honda), Rajko Piciga (YU, Tomos), Jacques Roca (F, Derbi), Sadao Shimazaki (J, Honda), Cees vanDongen (NL, Honda).

50 cm³ Hersteller-Wertung 1962

125 cm³ Fahrer-Weltmeisterschaft 1962

Es wurden von den 11 Rennen im Jahr 1962 nur die besten 6 Resultate gewertet, bei den 125-ern gab es in dieser Saison dadurch 3 Streichresultate. Hier zur Vollständigkeit auch die Fahrer, welche bei einem GP auf Rang 7 bis 10 ins Ziel gekommen waren (mit den damals üblichen Ländercodes):
Kemal Bucalo (YU, NSU), Don Chapman (GB, Bultaco), Peter Eser (D, Honda), Ricardo Fargas (E, Ducati), Francisco González (E, Bultaco), Stuart Graham (GB, Bultaco), Vida Gronqvist (S, Bultaco), Seppo Kangasniemi (SF, MZ), Dieter Krumpholz (DDR, MZ), Wolfgang Moses (DDR, MZ), Seppo Näppi (SF,NSU), Mike O’Rourke (GB, Bultaco), W. Peatman (GB, Bultaco), Dan Shorey (GB, Bultaco), Fred Stevens (GB, Bultaco), Ulf Svensson (S, Ducati), László Szabó (H, MZ), Pierrot Vervroegen (B, Ducati), Arthur Wheeler (GB, Ducati).

125 cm³ Hersteller-Wertung 1962

Weiter geht es in Kürze mit Teil 7 über das Leben von Ernst Degner und seinem Karrierenende..